Um in dieser Welt Erfolg zu haben – oder auch nur zu funktionieren –, ist es allem Anschein nach erforderlich, Unstimmigkeiten im Denken und in der Moral mit großer Toleranz zu begegnen.

Nach John Vaillant

Wie lernt ein Kind, wie es auf einem Foto zu gucken hat?

Wir vor-digitalen Kinder hatten es wirklich nicht einfach: Auf den ersten Fotos von uns, die wir bewusst wahrnahmen, fanden wir vielleicht, dass wir scheiße aussahen. Wir nahmen uns vor, das nächste Mal intelligenter und smarter zu gucken und überhaupt etwas mehr wie ein Filmstar zu wirken.

Allerdings war unser Vorhaben ein extrem langfristiges: Es wurden verhältnismäßig selten Fotos von uns gemacht (jedenfalls im Gegensatz zu heute), und die bekamen wir vor allem immer mit einer gehörigen Verzögerung zu sehen. So wussten wir kaum noch, wie genau wir diesmal (ohne Erfolg) unser Gesicht verkrampft hatten, um gut auszusehen und probierten aus Vergesslichkeit mehrmals die gleichen fehlgeschlagenen, fratzenhaften Verrenkungen.

Ein Fotogesicht zu entwickeln war damit erst viel später möglich als heute (ist das gut oder schlecht?). Heute kriegen die Kinder ihre Rückmeldung gleich nach dem Fotografieren – und fordern diesen Prüfblick auf das Display auch immer vehement ein.

„Nichts kann die menschliche Entwicklung so wirkungsvoll hemmen wie die mühelose, sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses durch mechanische, elektronische oder chemische Mittel. In der ganzen organischen Welt beruht Entwicklung auf Anstrengung, Interesse und aktiver Teilnahme – nicht zuletzt auf der stimulierenden Wirkung von Widerständen, Konflikten und Verzögerungen.“

Lewis Mumford

Lesezeich n en

Lesezeichnen sagt die Tochter, natürlich weil sie das Wort „zeichnen“ besser kennt als Wort „Zeichen“ . Und genauso macht es der Mensch: Nimmt das Nächstähnliche, nur weil er es schon kennt, und sei die Verbindung auch noch so absurd – allemal besser, als auf etwas Unbekanntes zu treffen.

Tag der Befreiung

Gehe heute über den Alex. Die betteln mich an. Der eine bezeichnet sich selbst sinngemäß als „vom Pech verfolgter Sympath“ und zieht sofort eine Fresse, als ich mich nicht zahlungsbereit zeige. Der andere sitzt traurig auf dem Boden. Andere verkaufen elektrische Enten, Traurigtierwurst, Mützen ehemaliger Befreier – auch traurig. Plötzlich schießt mir der Gedanke ganz klar ins Hirn: Warum die Leute der DDR hinterherweinen. Natürlich kann das so ein Westler nicht verstehen, der diesen traurigen Mist von Kindheit an jeden Tag nicht anders kennt. Aber „wir“, wir hatten das Gefühl, alle, alle auf der Straße und alle überall, arbeiten mit an etwas Gutem. Wir verkaufen nicht einfach nur irgendeinen Shit, um über die Runden zu kommen, sondern wir bauen alle mit jeder kleinen Aufgabe an einer Verbesserung für alle Menschen. Und wir halten irgendwie alle zusammen, wir sind nicht gegeneinander.

Das war natürlich Blödsinn. Totaler Fremd- und Selbstbetrug. Aber zumindest hab ich das als Kind ein bisschen gespürt. Obwohl ich wusste, dass Vieles schiefläuft.

Dieses wohlige Gefühl will mir nicht aus dem Kopf. Es ist wirklich traurig heutzutage.

Auf dem Land, im Zimmer, höre ich ein Kratzen oder Scharren. Als ich die Quelle des Geräuschs finde, sehe ich einen Schmetterling, der die Flügel bewegt. Es ist Frühling, und die ersten Flügelbewegungen in diesem Leben sind lauter als sonst.

Das Mädchenkind sitzt neben mir im Auto. Beide folgen wir einem Hörbuch, während vor uns die Straße mäandert. Das Kind hat seine Mütze immernoch auf, obwohl es viel zu warm dafür im Auto ist. Aber würde ich sie jetzt fragen, die Mütze abzunehmen, so müsste ich erstmal gegen das Hörbuch ankommen, und dann, wenn ich ihre Aufmerksamkeit erlangt hätte, würde sie doch die Mütze aufbehalten wollen, und wenn ich sie Ihr doch abnähme (was einem nicht erlaubten Übergriff gleichkäme), dann müsste ich später draußen wieder kämpfen, damit sie sie aufsetzt.

Ein Kind kann eine Mütze auch allein absetzen, wenn ihm zu warm wird. Und das Kind sieht verwegen aus mit der Mütze, wie einer dieser coolen Jungs, die egal wo, immer die Mütze aufbehalten, weil es zu ihrem „Style“ gehört. Aber gleichzeitig sitzt die Mütze so ein bisschen schief und verdreht, wie nur ein Kind eine Mütze tragen kann, ohne es zu bemerken, und wie nur ein Kind auf diese Art unvollkommen vollkommen sein kann.